NACHRUF ROBERT SPAEMANN
5.5.1927 – 10.12.2018
Robert Spaemanns Philosophie konnte am wenigsten mit der hegelschen Eule der Minerva verglichen werden, die ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt, sondern ähnelte vielmehr dem Vorwitz eines sokratischen Hahns, der früher kräht als Ohren erwacht sind, um ihn hören zu können. Sein philosophisches Wirken hindurch hat er immer wieder bewiesen, daß Philosophen nicht nur zu spät kommen können, um die Entwicklung wissenschaftlicher und öffentlicher Debatten nicht allein zur Kenntnis, sondern durch scharfsinnige Argumente und eine spezifisch philosophische Sicht der Dinge auf ihren Ausgang auch Einfluß zu nehmen. Deshalb hat Spaemann über Jahrzehnte hinweg durch sein öffentlich stark wahrgenommenes Nachdenken die Ethikdiskurse in Deutschland, Europa und darüber hinaus so nachhaltig wie kaum ein anderer Philosoph der jüngeren Gegenwart beeinflußt und geprägt.
Mit Blick auf die Unbeherrschbarkeit möglicher Folgen hat Spaemann die atomare Technik kritisiert und die Integrität des Natürlichen als unentbehrliche Basis unserer eigenen Existenz aufgezeigt, bevor ein Grüner Standpunkt überhaupt formuliert war; er hat ferner den Fortschrittsglauben eines emanzipativen Bildungsideals gedämpft, bevor er dem juvenilen Pessimismus der achtziger Jahre ohnehin zum Opfer gefallen ist; er hat außerdem, und bedeutender Weise, die Rationalität teleologischer Kategorien für die Naturbeschreibung international wieder ins Gespräch gebracht, bevor selbst die Biowissenschaften bestimmte Vorzüge davon neu entdeckten; und er hat politische Philosophie in Deutschland auf höchstem Niveau betrieben, dabei in der Ethik eine Verbindbarkeit von universalistischem Anspruch und kommunitaristischer Rückbindung an substantielle Traditionen aufgezeigt, bevor beides in Amerika zum vordringlichsten Thema philosophischer Debatten und anschließend nach Europa reimportiert wurde; er hat, als ein weiteres zentrales Thema seines Philosophierens, die Unhaltbarkeit funktionalistischer und konsequenzialistischer Begründungen von Moral und Religion schon zu einer Zeit durchschaut und schlagende Argumente dagegen vorgebracht, als der funktionalistische Ansatz in den sozialethisch befaßten Disziplinen noch auf seinem Höhepunkt war; und er hat, nicht zuletzt, den Begriff der Person philosophisch geklärt und wieder hoffähig gemacht und die unerträglichen Konsequenzen seiner Entwertung durch Soziobiologie, Wildwuchs in der Gentechnologie und die eine solche Entwicklung orchestrierende philosophische Kritik (z.B. durch Parfit und Singer) vor Augen geführt, bevor sich allenthalben Ethikkommissionen und sogar öffentliche Entrüstung solcher Themen annahmen.
Spaemann war einer der weltweit prominentesten und meistgeschätzten Philosophen deutscher Zunge in der Gegenwart. Seine Bücher wurden in mehr als 14 Sprachen übersetzt. Geboren 1927 studierte er in Münster, München, Fribourg und Paris Philosophie, Geschichte und Theologie und lehrte seit 1962 als Ordinarius für Philosophie zunächst in Stuttgart und Heidelberg, ab 1973 bis zur Emeritierung 1992 in München. Er war Ehrendoktor der Universitäten Fribourg, Pamplona und Washington DC, Träger der Thomas-Morus-Medaille, Offizier des französischen “Ordre des palmes académiques“, Träger des bayerischen Maximiliansordens und versammelte auf sich zahlreiche andere, nationale und internationale Auszeichnungen.
Mit seinen sachlich entschieden plädierenden, aber durch neue, immer rationale Argumente die Erkenntnis ihres Gegenstandes beflügelnde und zudem in brillanter, ihrerseits schon preisgekrönter Prosa verfaßten Büchern hat Spaemann nicht nur die philosophische Diskussion im deutschsprachigen, sondern im internationalen, vor allem auch amerikanischen Raum stark geprägt. Es geschieht heute selten, daß deutsche Gegenwartsphilosophie überhaupt noch den Weg über die Grenzen des Landes hinaus und sogar über den Atlantik findet; vielmehr ist der Einfluß inzwischen fast ausschließlich umgekehrt gerichtet. Spaemanns Philosophieren war für das erste ein umso erfreulicheres Beispiel, als sein Denken zugleich profund aus kontinentalen Denktraditionen schöpfte - es so weitertransportierte - und doch souverän Standpunkte innerhalb der Modernität bezog und mit neuer Attraktivität versah, die sich jedem modischen und voreilig szientifischen Konsens der Meinungen entgegenzustellen wußte. Er war in seiner unnachahmlichen Mischung aus Skepsis gegen das scheinbar unstrittig Gewordene und Zutrauen auf die natürlichen Durchsetzungs¬kräfte des Vernünftigen in der Tat diejenige Gestalt in der deutschsprachigen Philosophie der Gegenwart, die am ehesten mit ihrem Geburtshelfer, Sokrates, zu vergleichen ist.
(Thomas Buchheim)
Curriculum Vitae
geb. am 5. Mai 1927 in Berlin
1947-1952 Studium der Philosophie, Romanistik und Theologie an den Universitäten Münster, München, Fribourg und Paris
1952 Promotion (durch Joachim Ritter) in Münster
1952-1956 Tätigkeit als Verlagslektor (Kohlhammer)
1956-1962 Wissenschaftlicher Assistent im Fach Philosophie in Münster
1962 Habilitation für die Fächer Philosophie und Pädagogik in Münster
1962 Professor für Philosophie und Pädagogik an der TH Stuttgart (Nachfolge Max Bense)
1969 Professor für Philosophie in Heidelberg (Nachfolge Hans Georg Gadamer)
1973 Professor für Philosophie in München (Nachfolge Max Müller)
1992 Emeritierung
Darüber hinaus (in Auswahl):
Honorarprofessor an der Universität Salzburg
Gastprofessuren in Rio de Janeiro, Paris, Liechtenstein, Berlin
Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs für Philosophie
Gründungsmitglied der Academia Scientiarum et Artium Europae (Salzburg)
Akademisches Mitglied der Societas Ethica, Lateran-Universität Rom
Mitglied des Vorstands des Institut international de Philosophie (Paris)
Beratendes Mitglied im Kuratorium der Katholischen Akademie in Bayern
Träger der Thomas-Morus-Medaille (1982)
Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1988)
Träger des Bayerischen Verdienstordens (1994)
Ritterschlag zum Officier de l‘Ordre des Palmes Académiques (1990)
Ehrendoktoren der Universitäten Fribourg, Pamplona, Santiago de Chile, Washington DC
Premio Ronçesvalles (Navarra, Spanien, 2001)
Karl-Jaspers-Preis (Heidelberg, 2001)
Bayerischer Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (2002)
Einladung zu den Mercier-Vorlesungen der Universität Leuven (2002)
Ehrenmitglied der chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften (2009)
Bücher:
1. Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien über de Bonald, München (Kösel) 1952
2. Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon, Stuttgart (Kohlhammer) 1963, (Klett) 2. Auflage 1990
3. Zur Kritik der politischen Utopie. Zehn Kapitel politischer Philosophie, Stuttgart (Klett) 1977 (spanisch 1980)
4. Einsprüche. Christliche Reden, Einsiedeln (Johannes Verlag) 1977
5. Rousseau - Bürger ohne Vaterland. Von der Polis zur Natur, München (Piper) 1980
6. Persönliche Verantwortung (zus. mit Peter Geach u. Fernando Inciarte), Köln 1982.
7. Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens (zus. mit Reinhard Löw), München (Piper)1981 3. Auflage 1991. Neu bearbeitet unter dem Titel: Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, Stuttgart 2005.
8. Moralische Grundbegriffe, München 1982 (Beck‘sche Reihe) 5. Auflage 1994 (englisch 1987)
9. Philosophische Essays, Stuttgart (Reclam) 1983
10. Das Natürliche und das Vernünftige. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie, München (Serie Piper) 1987 (z.T. spanisch 1991)
11. Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis (zus. mit Ernst-Wolfgang Böckenförde), Stuttgart 1987
12. Ethik. Lehr- und Lesebuch. Texte – Fragen - Antworten (zus. mit Walter Schweidler), darin: Was ist philosophische Ethik?, München (Serie Piper) 1987. Zweite, völlig neu bearbeitete Ausgabe, Stuttgart 2006
13. Töten oder sterben lassen? Worum es in der Euthanasiedebatte geht (zus. mit Thomas Fuchs), Freiburg u.a. 1997.
14. Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart (Klett) 1990 (englisch 1998)
15. Die Zweideutigkeit des Glücks, hg. Stifterverband der deutschen Wissenschaft, Stuttgart (Klett) 1990
16. Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‘etwas‘ und ‘jemand‘, Stuttgart (Klett) 1996
17. Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart (Klett) 2001
18. Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 2007
19. Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. I und II, Stuttgart 2009 und 2011
20. Nach uns die Kernschmelze. Hybris im atomaren Zeitalter, Stuttgart 2011
21. Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I und II, Stuttgart 2011.
22. Über Gott und die Welt. Eine Autobiographie in Gesprächen, Stuttgart 2012.
23. Meditationen eines Christen. Bd. I: Über die Psalmen 1-51; Bd. II: Eine Auswahl aus den Psalmen 52-150, Stuttgart 2014 und 2016.
Daraus die wichtigsten:
- Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon 1963 2. Auflage 1990
- Zur Kritik der politischen Utopie. Zehn Kapitel politischer Philosophie, 1977 (spanisch 1980)
- Rousseau - Bürger ohne Vaterland. Von der Polis zur Natur 1980
- Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens (zus. mit Reinhard Löw), München (Piper)1981 3. Auflage 1991. Neu bearbeitet unter dem Titel: Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, Stuttgart 2005.
- Moralische Grundbegriffe, München 1982 5. Auflage 1994
- Das Natürliche und das Vernünftige. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie 1987
- Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik 1990 (englisch 1998)
- Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‘etwas‘ und ‘jemand‘ 1996
- Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001.
- Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 2007.