Thomas Wyrwich: Kants Aufsatz über das Lügenverbot und das Problem der Verquickung von juridischer und göttlicher Gerechtigkeit, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 1/2013, S. 128-138
Abstract deutsch: In seiner Abhandlung "Über ein Vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen" vertritt Kant die These, dass es selbst gegenüber einem potentiellen Mörder nicht erlaubt sei, den Aufenthaltsort eines versteckten Freundes durch eine Lüge zu verbergen. Vielmehr könne der gutmütige Lügner sogar vor einem "bürgerlichen Gerichtshof" dafür (mit) verantwortlich gemacht werden, wenn der Mörder dann in Folge der Lüge den Versteckten "zufällig" aufgreifen könne. Der vorliegende Aufsatz lenkt nun zunächst die Aufmerksamkeit darauf, dass der Mörder aber auch genauso durch die gebotene wahrheitsgemäße Aussage des Hausherrn zu dem Versteckten gelenkt werden könnte, ein Szenario, das Hegel ausmalt, um die Kantische Position zu kritisieren. Der Aufsatz versucht daraufhin zu zeigen, dass die Schuldfrage, die hier vor Gericht verhandelt werden müsste, zu einem reinen Gesinnungsproblem werden könnte. Der juridische Diskurs, so die zentrale These des Aufsatzes, verweist hier von sich aus immanent auf die Perspektive einer "göttlichen" Gerichtsbarkeit, innerhalb derer die Motive mit letztem Recht gerichtet werden könnten. In dieser göttlichen bzw. rein vernünftigen, philosophischen Perspektive muss der Aufrichtige dann auch alle Folgen der gebotenen Handlung als "gerechtfertigt" ansehen können.
Abstract englisch: Kant’s essay on the prohibition of lying and the problem of the confusion between juridical and divine justice - In his paper "On a Supposed Right to Lie from Philanthropic Concerns,” Kant claims that it is not even allowed to conceal by means of a lie the hiding place of a friend from a possible murderer. Indeed, the good-natured liar could even be held jointly responsible in a civil court proceeding if the murderer caught the friend "accidently" as a consequence of the lie. This essay first draws attention to the possibility that the murderer could also be led to the hidden friend by the truthful statement of the homeowner, a scenario that Hegel imagines in order to criticize the Kantian position. After that, this essay argues that the question of guilt that a court would have to decide on here could be transformed into a pure problem of inner attitude. The juridical discourse of itself immanently points to the perspective of a "divine" jurisdiction, in which the motives would have to be judged finally. This is the central claim of this essay. In this divine or purely rational, philosophical perspective, the honest man must be able to regard all the consequences of the demanded action as "justified."